Ho Chi Minh läßt grüßen

Von Martin Bolkovac · · 1999/11

Das höchste Wirtschaftswachstum Südostasiens, eine wachsende Kluft zwischen arm und reich sowie stark verschlechterte Lebensbedingungen für die armen Bevölkerungschichten: Das ist Vietnam knapp ein Vierteljahrhundert nach Kriegsende.

Wirtschaftliche Öffnung und Tourismusboom sind in der Innenstadt des ehemaligen Saigon unübersehbar. Italienische Eissalons, europäische Restaurants und Souvenirshops prägen das Straßenbild der 3,5 Millionen Menschen fassenden Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt. „Onkel Ho“, Staatsgründer und Namensgeber der 1975 von den nordvietnamesischen Truppen eingenommenen Stadt, überwacht mit mißtrauischem Blick das turbulente Geschehen von seinem grauen Sockel vor dem kolonialen Rathaus aus. Junge VietnamesInnen bemühen sich hartnäckig, den BesucherInnen Postkarten, T-Shirts oder kopierte englischsprachige Bücher zu verkaufen. Die Fahrer der Cyclos, der vietnamesischen Fahrradrikschas, versuchen, ausländische Gäste zu einer überteuerten Fahrt durch die Stadt zu überreden.

Die modernen Bürokomplexe lassen auf den ersten Blick eher an Hongkong oder Singapur denken als an einen kommunistischen Bauernstaat. Wer genauer hinsieht, entdeckt allerdings nur wenige hundert Meter von den in der Sonne glitzernden Wolkenkratzerfassaden entfernt an den Ufern der schmalen Stadtkanäle die kleinen, desolaten Holzhütten der Unterprivilegierten.

„Vietnam ist schon lange nicht mehr kommunistisch“, erklärt Pham Hai, der während des Zweiten Indochinakrieges mit seinen Eltern nach Frankreich geflohen ist. Heuer ist er in seine ehemalige Heimat zurückgekehrt, um Verwandte zu besuchen und das Land zu bereisen. „Alles hat sich hier verändert. Meine Schwester darf zwar immer noch nicht nach Frankreich fliegen, um uns zu besuchen. Aber innerhalb Vietnams kann sie tun und lassen was sie will. Privatinitiative wird gefördert, die Menschen haben Grund und Boden und ihre persönliche Freiheit zurückerhalten.“

Die Umgestaltung der sozialistischen Wirtschaft hatte in Vietnam schon sehr früh, vor rund 20 Jahren, eingesetzt. Die zunehmende Unwilligkeit der Bauern, ohne eigenen Profit für die Genossenschaften zu produzieren, hatte schwere Nahrungsmittelkrisen zur Folge. Die Regierung sah sich gezwungen, den ursprünglich gemeinschaftlich bearbeiteten Boden an einzelne Familien zu verpachten. Die Produktionsergebnisse schnellten daraufhin in die Höhe, die Bauern investierten und diversifizierten ihre Produktion.

Nach einer Rekordernte rückte Vietnam letztes Jahr hinter Thailand sogar an die zweite Stelle der reisexportierenden Staaten auf. Daneben wurden auch gute Ergebnisse mit Kaffee, Tee, Latex, Zucker, Viehzucht und fossilen Brennstoffen erzielt. Das Bruttoinlandsprodukt verzeichnet mittlerweile bereits die größte WachstumsrateSüdostasiens .

Die Umgestaltung des industriellen Sektors wurde Mitte der achtziger Jahre im Rahmen der allgemeinen neuen Wirtschaftspolitik „doi moi“ eingeleitet. Banken und Staatsbetriebe wurden privatisiert, freies Unternehmertum und ausländische Investitionen nach und nach zugelassen.

Seit der Aufhebung des US-Embargos durch Bill Clinton im Jahre 1994 sind bereits an die 400 US-amerikanische Firmen in Vietnam tätig geworden, darunter Mobil, Ford, IBM und Nike. Die Hoffnungen vieler VietnamesInnen auf einen guten Arbeitsplatz in einem internationalen Unternehmen wurden aber enttäuscht. Ausländische Arbeitgeber kamen vielmehr durch die in ihren Fabriken herrschenden unmenschlichen Abeitsbedingungen und die niedrigen Löhne immer wieder in die Schlagzeilen. Der durchschnittliche Monatslohn liegt nach wie vor unter 350 Schilling. In den Nike-Schuhfabriken berichteten Augenzeugen über unzureichende Bezahlung und über lange Arbeitszeiten, fehlende Schutzkleidung sowie exzessive Hitze und Lärm am Arbeitsplatz. Viele ArbeiterInnen klagen außerdem über schwere chronische Atemprobleme. Die Karzinogene in der Luft verursachen bei vielen Beschäftigten Krebserkrankungen bzw. Schädigungen an Leber, Nieren und des zentralen Nervensystems.

Die wirtschaftliche Öffnung wurde allerdings von rigiden Sparmaßnahmen im Sozialbereich begleitet. Darüber hinaus muß Vietnam mit dem inflationsbedingten Anstieg der Preise für Getreide und Nahrungsmittel sowie steigender Arbeitslosigkeit fertig werden. Die Kluft zwischen arm und reich wächst und die Lebensbedingungen und die Ernährungssituation der armen Familien verschlechtern sich zusehends. Vor allem die ländliche Bevölkerung bekommt die Schattenseiten der kapitalistischen Umgestaltung zu spüren. Viele Bauern mußten bereits ihre Farmen verkaufen, um zu überleben. Zu Krediten der Vietnamesischen Agrarbank haben die Ärmsten keinen Zugang, wenn sie keine Sicherheiten vorweisen können, und auf dem privaten Markt sind die Zinsen wesentlich höher.

Quang Tu besitzt einige Kilometer außerhalb der südvietnamesischen Stadt Da Lat eine kleine Farm. Der Ochsenkarren scheint in dieser Gegend Hauptverkehrsmittel zu sein. Einer nach dem anderen, meist von Kindern gesteuert, fährt langsam an Quangs Feld vorbei. Das idyllische Bild läßt den harten Alltag der Landbevölkerung fast übersehen. Wie die meisten Bauern in Vietnam erledigt Quang die ganze Arbeit manuell. In seinen Händen hält er eine große Hacke, seine Beine stecken fast bist zu den Knien im schlammigen Boden seines Feldes. „Ich verdiene gerade einmal genug, um meine Familie zu ernähren. Ich habe kein Geld, um meinen Sohn in die Schule zu schicken. Arztgebühren und Medikamente können wir uns genauso wenig leisten. Ich kann nur hoffen, daß meine Familie und ich gesund bleiben!“

Mittlerweile hat bereits die Hälfte der Landbevölkerung keinen Zugang zu medizinischer Versorgung mehr. Für Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte wurden Gebühren eingeführt, nur 13% der VietnamesInnen sind krankenversichert.Viele Unternehmen stellen ArbeiterInnen einfach nur mehr zeitlich befristet ein, um sie nicht bei der Versicherung anmelden zu müssen.

Die Folgen der teuereren Gesundheitsversorgung und der Preissteigerungen bei Lebensmitteln sind fatal. So erblinden jedes Jahr bis zu zehntausend Kinder wegen Vitamin A-Mangels.

Und die Anzahl der Kinder, die eine Schule besuchen, sinkt kontinuierlich. Viele Eltern können sich die finanziellen Aufwendungen für jährliche Schulgebühren, Unterrichtsmaterialien und Geschenke an die Lehrer einfach nicht mehr leisten. Der Analphabetismus ist wieder auf dem Vormarsch.

Die Regierung unter Premierminister Phan Van Khai reagierte mit einem breitangelegten Armutsbekämpfungsprogramm, das auf die 1715 ärmsten Kommunen des Landes abgestimmt ist. Es soll die Anzahl der armen Haushalte auf vier bis fünf Prozent reduzieren. Man will allgemeinen Zugang zu Wasserversorgung, Bildungsinstitutionen und kulturellen Aktivitäten ermöglichen sowie Gesundheitsvorsorge und Straßenbau intensivieren.

Ob diese Vorhaben mit den Plänen des Internationalen Währungsfonds vereinbar sind, bleibt abzuwarten. Dieser macht zusätzliche Geldmittel nämlich von einer weiteren Abwertung der Währung Dong und der Fortsetzung der Privatisierungsmaßnahmen abhängig. Was wohl Ho-Chi-Minh zu all dem sagen würde?

Der Autor studiert in Wien Politikwissenschaft mit den Schwerpunkten Sozialpolitik und Dritte Welt und bereiste heuer drei Monate lang Südostasien.

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